Ein Meer von Wracks

Die Ostsee ist das wrackhaltigste Meer. Die meisten Schiffsreste liegen vor Rügen. (translate to English with Systran or Altavista)

Hier liegt eine Ruinenlandschaft im Meer. Kap Arkona, der nördlichste Zipfel von Rügen.

von Ulli Kulke

Ein Blick über das weite Meer. Von hoch oben über der Ostsee, vom Kreidefelsen auf Rügen, teilen wir die Aussicht mit zwei Herren und einer Dame im Vordergrund, gewandet im vornehmen Stadtrock – eine Ikone aus dem Zeitalter der Romantik. Heute, im Zeitalter der interaktiven Kunst, machen wir uns den Spaß und lassen – ohne Rücksicht auf das Segelboot im Hintergrund – das Wasser aus Caspar David Friedrichs Ölmalerei ab.

Natürlich sehen wir Schlick und Sandboden, soweit unser und des Malers Auge reicht. Doch des Romantikers Herz schlüge hoch angesichts der Meeresgründe, die sich vor ihm auftäten: Koggen, Kutter und Kanonenboote, Schuten, Schoner und Schaluppen, von Muscheln und Algen überwuchert, grünlich fluoreszierend, bräunlich-schwarz dahinrottend, aus allen erdenklichen Jahrhunderten und aus Hunderten von Seegefechten, umgeben von nicht mehr ganz runden Kanonenkugeln, abgerissenen Ankern und umgestürzten Masten. Eine Ruinenlandschaft, wie die Phantasie sie nicht bizarrer malen könnte. Ein Meer von Wracks.

Schlagartig wäre auch klar, warum Karl Friedrich Schinkel nur wenige Kilometer von dem Platz entfernt, wo Caspar David Friedrichs Staffelei stand, und ziemlich zur selben Zeit einen dreigeschossigen Leuchtturm auf das Kap Arkona erbaute. Der Kreidefelsen an der Nordspitze Rügens mit vielen vorgelagerten Untiefen sowie die Jasmunder Steilküste, dem gefürchteten Nordost ausgesetzt, waren in den Jahrhunderten zuvor einer Unzahl von Seglern zum Verhängnis geworden. Gut 150 historische Wracks liegen im Abstand von nur ein, zwei Kilometern rund um Rügen.

2000 gesunkene Schiffe werden vor der gesamten Küste Mecklenburg-Vorpommerns innerhalb der Zwölfmeilenzone vermutet. Die Überreste von wie vielen tausend Schiffen auf dem Grund des einstigen Mare Balticums und der heutigen Ostsee insgesamt ihrer Entdeckung harren, läßt sich nur sehr grob schätzen. 500 Fundorte sind den einschlägigen Behörden bekannt. Die Ostsee mit ihrem geringen Salzgehalt ist kein idealer Lebensraum für Bohrwürmer, die in den sieben Weltmeeren hölzernen Wracks den Rest geben.

Es gibt eine Reihe prominenter Größen unter den Ostseewracks, insbesondere aus jüngerer Zeit, viele von ihnen von einem Netz von Gerüchten und Skandalen umgeben:

  • Die Fähre "Estonia": Hatte sie von der Russenmafia mit Rauschgift vollgestopfte Lastwagen geladen? Hatten die Gewährsmänner an Bord, als sie Wind von einer drohenden Razzia bekamen, versucht, die Fahrzeuge über Bord gehen zu lassen?
    Wilhelm Gustloff 
  • Riß die "Wilhelm Gustloff", als der Flüchtlingstransporter am 30. Januar 1945 von sowjetischen Torpedos getroffen wurde, nicht nur 5348 Menschen in die Tiefe, sondern auch das legendäre Bernsteinzimmer?
     
  • Hatte das deutsche U-Boot "U 534", als es in den letzten Kriegstagen versenkt wurde, geheime Nazi-Dokumente, einen Schatz, Martin Bormann auf der Flucht nach Südamerika oder alles drei an Bord?
     
  • Liegt irgendwo vor Gotland ein US-Klipper namens "Orkney", der im Jahre 1867 auf der Fahrt nach St. Petersburg versank? Mit 7,2 Millionen Dollar im Schiffstresor, jenen "Peanuts", mit denen die USA Alaska von Rußland gekauft hatten?
     
  • Wo überall liegen alte sowjetische Atom-U-Boote, respektive ihre Reaktoren, und verstrahlen das Meer?
     
  • Oder ist an allen diesen Dingen doch nichts dran?

Unterwasserarchäologie

Etwas weniger kriminologisch forscht Thomas Förster. Der diplomierte Museologe nimmt die Wracks gleich in doppelter Funktion unter die Lupe. Als Angehöriger des mecklenburg-vorpommerschen Landesamtes für Bodendenkmalpflege, das sich die Kartierung der Fundstellen zum Ziel gesetzt hat, besitzt er die behördliche Lizenz, die Wracks aufzusuchen, zu inspizieren und auch Teile davon – wenn sie anders nicht geschützt werden können – heraufzuholen.

Doch das Landesamt kann sich keine eigene Tauchstaffel leisten. Und so beauftragt es den Landesverband des Vereins für Unterwasserarchäologie, dessen Vorsitzender ebenfalls Thomas Förster ist, mit der eigentlichen Unterwasserarbeit. Ihre Tauchbasis ist im Dörfchen Vitt, direkt unterhalb von Kap Arkona.

"Es geht nicht darum, die Schiffsreste auszubuddeln und zu bergen", sagt der Meeresboden-Denkmalpfleger. Die offiziösen Taucher lassen grundsätzlich alles an Ort und Stelle auf dem Meeresgrund. Allenfalls mal hier eine Flasche, mit der man die Herkunft des Schiffes bestimmen kann, mal da ein Scheit Brennholz, anhand dessen Spezialisten das Jahr des Untergangs ungefähr ausmachen können, befördern sie in die Oberwelt.

In liebevoller Detailarbeit wird anschließend versucht, anhand von Lage, Bauart und Inventar möglichst viel über das untergegangene Schiff und die Hintergründe seines Untergangs zu erforschen: "Jedes neue Wrack ist aufregend."

Die Tauchstaffel im Dienste der Altertumsforschung hat eine ganze Reihe von "Hauswracks", die sie regelmäßig inspiziert. Dazu gehören:

  • Das Wrack "Arkona", rund 800 Meter vor dem Kap, aus dem 17. Jahrhundert. Das Kriegsschiff entstammte aller Wahrscheinlichkeit nach der damaligen Entente aus Holländern, Dänen und Brandenburgern. Es sank vermutlich, weil es nach dem Bruch seiner Ankerkette auf das Riff getrieben wurde.
     
  • Das Wrack "Mukran", rund 200 Meter vor dem gleichnamigen Fährhafen, das wohl älteste Wrack in den Rügener Küstengewässern, aus dem "Dreikronenkrieg" 1563-1570 zwischen Dänemark, Lübeck und Polen einerseits und Schweden andererseits. Schwedens König Erich wollte seinerzeit nicht akzeptieren, daß Dänemarks König Christian drei Kronen im Staatswappen führte. Und so trafen im Mai 1565 vor Rügen 50 schwedische Schiffe auf neun dänisch-lübeckische. Das dänische Schiff sank schließlich, von der Mannschaft aufgegeben und in Brand gesteckt.
     
  • Das Wrack "Auguste". Aus dem 1894 auf der Fahrt von Stockholm nach Stettin vor der Tromper Wieck gesunkenen Schoner konnte Förster noch verkorkte Weinflaschen bergen.

Denkmalschutz

Försters Unterwasserarbeit ist auch Undercoverarbeit. Den Archäologen geht es nämlich zuallererst darum, Wrackplünderungen zu verhindern. Haben Förster und seine Vereinskameraden einen Fundort ausgemacht, halten sie ihn zunächst geheim. Die Wasserschutzpolizei allerdings kann daran anschließend ein Auge darauf haben und bei verdächtigen Tauchbewegungen einschreiten.

Denn bisweilen sickern die Koordinaten nach der Entdeckung doch durch: "Drei Wochen, nachdem wir einen Handelssegler aus dem 19. Jahrhundert entdeckt hatten, war das Schiff völlig leergeräumt", klagt Thomas Förster. Alte Keramik, Flaschen und Münzen waren bereits auf dem Weg zum Schwarzmarkt.

Läßt sich ein Fundort nicht mehr geheimhalten, wird die gelbe Sperrtonne mit der schwarzen Aufschrift "Sperr-G." gesetzt. Dann ist im Umkreis von 300 Metern jeglicher Boots- und Tauchverkehr untersagt. Wer sich nicht daran hält, riskiert seinen Bootsführerschein.

Nicht jeder Übeltäter bekommt von Thomas Förster gleich die ganze Breitseite ab, wenn er ihn erwischt: "Die wissen oft gar nicht, was sie tun, und wollen sich nur ein kleines Andenken mitnehmen", signalisiert Förster gewisse Verständnisbereitschaft für Freizeit-Frevler.

Anders wird seine Laune beim Umgang mit Profis: "Die suchen die Wracks mit Metallsonden ab und hauen anschließend den Schiffsboden auf." Ihr Augenmerk gilt Münzen, Sextanten oder anderem nautischen Feingerät. Schlichte Kanonenkugeln erzielen auf dem Schwarzmarkt Preise von mehreren hundert, komplette Geschütze bis zu 50 000 Mark.

Wenig Verständnis hatten die Hüter des Meeresgrundes aber auch, als eine Einheit der Bundesmarine bei einer Übung vor der Rostocker Küste kurzerhand einen Anker aus dem 16. Jahrhundert mitgehen ließ, um ihn stolz vor der Kaserne zu postieren.

Das Denkmalschutzgesetz des Landes verbietet Unbefugten – bei Geldbußen bis zu 300 000 Mark – nicht nur, Hand an die Schiffsruinen zu legen, sondern überhaupt Nachforschungen vor Ort durchzuführen. Alles, was nur irgendwie nach Wrack aussieht und für das es keinen Hinweis auf Besitzer gibt, gehört dem Staat, keineswegs dem, der es findet.

Wer es dennoch nicht sein lassen kann, Wracks zu plündern oder für teures Geld entsprechende Hehlerware zu kaufen, muß wissen, daß seine Freude am Erworbenen oder Gehobenen begrenzt sein wird. Ob es sich um metallene Säbel, steinerne Schüsseln oder hölzerne Steuerräder handelt: Kommt es an die frische Luft und wird es nicht umgehend fachmännisch – in bisweilen langjährigen Verfahren – konserviert, zerbröselt es oftmals schneller, als der Platz in der Vitrine dafür freigeräumt ist.

Wracks in der DDR

Die systematische Suche nach den Schiffswracks vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns war zu DDR-Zeiten unmöglich. Die Ostsee war Grenzgewässer und jeder Taucher ein potentieller Republikflüchtling. Gab es einmal Funde, so waren dies eher zufällige Entdeckungen im Zuge von Tauchübungen der Marine. So wurden auch erste Teile des Mukran-Wracks bereits 1987 gefunden. Zwar konnten Archäologen theoretisch auch tauchen. Dies setzte jedoch langwierige, abschreckende Genehmigungsverfahren voraus und brachte während der beaufsichtigten Tauchgänge erhebliche Behinderungen mit sich.

Die Antwort weiß der Baum

Eine Möglichkeit der Altersbestimmung von Wracks, wie auch von anderen archäologischen Funden mit Holzteilen, ist die "Dendrochronologie". Sie nutzt die Tatsache, daß Bäume in verschiedenen Jahren witterungsbedingt mehr oder weniger starke Vegetationsschübe aufweisen. Die Folge: Die Jahresringe der Stämme sind mal dicker, mal dünner.

Die unterschiedliche Ausprägung der Ringe von Jahr zu Jahr weist jedoch bei allen Bäumen ähnliche Strukturen auf. Habe ich ein Stück Holz unbekannten Jahrgangs und ein Referenzstück, dessen Alter ich kenne, kann ich deshalb erkennen, in welchem Jahr das gefundene Stück Holz gewachsen und auch gefällt wurde. Um das Jahr des Untergangs zu bestimmen, eignen sich am besten Scheite von Brennholz, weil diese Holzstücke die letzten waren, die an Bord kamen. Archäologen kennen heute die Struktur der Jahresringe für die letzten 6000 Jahre.

Nachfüllpacks Luft

Technische Tauchhilfen sind älter als alle Wracks der Ostsee. Schon in der Antike senkten Taucher umgestülpte Tonkrüge zum Meeresboden hinunter. Ging den "Freitauchern" die Luft aus, so steckten sie ihre Nase in die in dem Gefäß zusammengepreßte Luft und atmeten ein.

Als zu Beginn der Neuzeit Schiffswracks immer größere Werte beinhalteten, machte die Tauchtechnik schnelle Fortschritte. So wurden große Tauchglocken entwickelt, in denen sich die Menschen unter Wasser aufhalten konnten. Ab dem 17. Jahrhundert verwandte man zusätzlich Lufttonnen, quasi als Nachfüllpacks für die Tauchglocken. Auch Taucheranzüge aus Leder für "Freitaucher" kamen auf.

Im 18. Jahrhundert schloß man einen Luftschlauch an die Glocke und pumpte Luft hinab. Anfang des 19. Jahrhunderts war der Schlauch in einen mobilen Tauchhelm integriert. Heute ist der Helm wieder abgeschafft, der Schlauch von den Flaschen führt direkt zum Mund.

Foto: Annette Hauschild, Agentur Ost-Kreutz
Aus WOCHENPOST Ausgabe 30/96 vom 18.7.1996
Publiziert in Nordic Underwater Archaeology
mit Genehmigung von Die Woche, Ulli Kulke und Anette Hauschild.
Layout: Per Åkesson, Juli -97


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